2. Diskriminierung von Repatriierten nach 1945

Warum wurden die Repatriierten nach ihrer Rückkehr verhört, teilweise nicht zum Studium zugelassen und fanden nur schwer Arbeit?

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Die Sowjetunion war ein totalitärer Staat. Sie forderte die bedingungslose Opferbereitschaft ihrer Bürger*innen ein. Von Soldat*innen der Roten Armee wurde beispielsweise erwartet, dass sie sich der Gefangennahme durch Flucht oder gar Selbstmord entzogen. Und von allen Sowjetbürger*innen, die unter deutsche Besatzung gerieten, wurde erwartet, dass sie sich gegen die Besatzungsmacht zur Wehr setzten.

Diejenigen, die nach Deutschland verschleppt wurden, verstießen gegen diese Erwartung: Aus Sicht des Staates hätten sie mit allen Mittel versuchen sollen, sich der Verschleppung zu entziehen. Wenn ihnen dies nicht gelang, galt es zumindest als ihre Pflicht, Sabotage am Ort ihrer Zwangsarbeit durchzuführen oder sowjetische Propaganda unter ihren Mitgefangenen zu verbreiten. 

Mit dieser Einstellung befragte die sowjetische Spionageabwehr nach Kriegsende ehemalige Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, bevor diese in die Sowjetunion zurückgeführt wurden. Die Aufgabe der Spionageabwehr war es festzustellen, ob die Überlebenden der NS-Verfolgung „freiwillig“ nach Deutschland gegangen waren – was als Beleg für eine „antisowjetische“ Gesinnung galt – und ob sie mit dem NS-Regime in irgendeiner Form kollaboriert hatten, beispielsweise indem sie im Konzentrationslager eine Funktion bekleidet, also beispielsweise als Kapo hatten.

Noch wichtiger war für die Spionageabwehr die Überprüfung der politischen Einstellung der Rückkehrer*innen, also ob diese den Leitbildern der sowjetischen Ideologie folgten oder nach ihrem Aufenthalt in Deutschland mit dem kapitalistischen System sympathisierten. Darüber hinaus sollte der Geheimdienst auch nach „Spion*innen“ suchen, die von der US-amerikanischen oder britischen Besatzungsmacht angeworben und in die Sowjetunion geschickt worden seien, um Geheiminformationen zu beschaffen.

Wer bei der Überprüfung unter einen solchen Verdacht geriet, musste sich weiteren Befragungen unterziehen. Etwa 270.000 Menschen wurden als Verdächtige an den NKWD, die sowjetische politische Polizei, übergeben, eine unbekannte Zahl von ihnen wurde in den GULAG gebracht. Denjenigen, die bei den Befragungen nicht auffällig wurden, haftete dennoch der Ruf an, keine „ehrlichen“ und vollwertigen Sowjetbürger*innen zu sein. Nach der Logik der sowjetischen Ideologie hatten sie sich nicht wie „echte“ Sowjetbürger*innen verhalten, da sie zugelassen hätten, dass man sie nach Deutschland gebracht hatte, und sie dort für den Feind gearbeitet hatten. Sie sollten nun „ihre Schuld begleichen“. Indem das sowjetische Regime den Menschen das Gefühl vermittelte, sie seien selbst schuld an ihrer Deportation, konnte der sowjetische Staat letztlich die Verantwortung dafür abgeben, dass er die eigene Bevölkerung nicht hatte schützen können. So konnte er auch die Millionen Repatriierten ökonomisch ausnutzten: Denn angesichts der immensen Schäden, die der Krieg und die deutsche Besatzung verursacht hatten, benötigte der Staat für den Wiederaufbau dringend Arbeitskräfte. Die Repatriierten setzte der Staat für die schwersten Arbeiten ein, deren Verrichtung bei der übrigen Bevölkerung unbeliebt waren.

Die Sowjetunion war nach dem Krieg zu großen Teilen zerstört, der Bevölkerung mangelte es an Wohnraum und Nahrungsmitteln – viele lebten nach dem Krieg in Behausungen, die sie sich in die Erde gegraben hatten, und litten an Hunger. Angesichts dieser Umstände verglichen viele ehemalige NS-Verfolgte die katastrophalen Zuständen in der Sowjetunion mit denen im nationalsozialistischen Deutschland, wo es selbst Anfang 1945 in den Geschäften noch Produkte zu kaufen gegeben hatte, und teilten ihre Erfahrungen in ihrem Umfeld. Die politische Geheimpolizei begriff solche Gespräche als „antisowjetische Propaganda“, die den sozialistischen Aufbau in Frage stellten – allein deswegen konnten Menschen in den GULAG geschickt werden. Um nicht „antisowjetischer Propaganda“ verdächtigt zu werden, hörten die Überlebenden der NS-Verfolgung gezwungenermaßen auf, von ihren Erlebnissen in Deutschland zu sprechen. Viele übernahmen – tatsächlich oder nach außen – die Wahrnehmung ihres Umfeldes, dass sie ihre Zwangsarbeit selbst verschuldet hatten und sie diese Schuld „abarbeiten“ müssten, und fanden sich mit einem Leben als Menschen „zweiter Klasse“ ab.

Die sowjetische Ideologie und Propaganda waren, wie in vielen totalitären Systemen, voller Widersprüche. Das sowjetische Regime nutzte die Überlebenden der NS-Verfolgung faktisch ökonomisch aus, doch zugleich hieß es in den offiziellen Äußerungen und Dokumenten, dass sie wie vollwertige sowjetische Bürger*innen zu behandeln seien. Ihre Rechte bestanden auf dem Papier, wurden aber in Wirklichkeit immer wieder verletzt. So konnte die Repatriierten zwar in der Zeitung lesen oder im Radio hören, dass es keinen rechtlichen Unterschied zwischen ihnen und anderen Sowjetbürger*innen gäbe, aber faktisch war ihnen zum Beispiel verboten, in den drei Metropolen Moskau, Leningrad (heute St. Petersburg) und Kyjiw zu leben, selbst wenn sie vor dem Krieg dort gewohnt hatten. Männer im arbeitsfähigen Alter wurden in sogenannte „Arbeitsbataillone“ geschickt, in denen sie im Krieg zerstörte Industrieanlagen instandsetzen mussten und die sie über Jahre nicht verlassen durften. Verwaltungsmitarbeiter*innen in den mittleren Rängen verwehrten Repatriierten oft den Zugang zu Bildungseinrichtungen oder erschwerten ihren beruflichen Aufstieg. In ihrem persönlichen Umfeld sahen einige die Repatriierten als „Feinde“ an, andere bezweifelten zumindest ihre Treue gegenüber dem Staat, wieder andere mieden den Kontakt zu ihnen, um möglichen Problemen aus dem Wege zu gehen.

AUFGABEN 2

2.1.
Fasse anhand des Textes sowie der Biografien von Tamara Nassonowa und Klawdija Agafonowa zusammen, welche Grundrechte ehemaliger sowjetischer Zwangsarbeiter*innen nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion verletzt wurden.



2.2.
Von wem wurden ehemalige Zwangsarbeiter*innen in der Sowjetunion diskriminiert – und aus welchen Gründen? Nutze dazu auch die beiden Infoboxen.



Was ist Diskriminierung?

Diskriminierung ist die ungleiche und gesellschaftlich als ungerecht angesehene Behandlung von Menschen bzw. Gruppen von Menschen aufgrund von Merkmalen wie „Rasse“, Geschlecht, Alter, sexuelle Ausrichtung, Nationalität, Religion, politischer Haltung o.ä.

Diskriminierung beruht auf Stereotypen und Vorurteilen. Stereotypen sind Vorstellungen, mit denen das menschliche Bewusstsein die Realität vereinfacht. Sie beruhen auf dem Wunsch, Menschen nach gemeinsamen Merkmalen zusammenzufassen. Vorurteile gehen einen Schritt weiter – hier geht es darum, bestimmten Menschen negative Eigenschaften zuzuschreiben.

Wie entstehen Vorurteile? Zunächst nehmen wir sie in der Kindheit aus unserer Familie, unserem Umfeld und unserer Kultur auf. Vorurteile sind also nicht zu trennen von der Gesellschaft – sie sind nicht individuell, sondern verwurzelt in kollektiven Vorstellungen. Oft sind sie verbunden mit Angst vor denen, die vermeintlich anders sind als „wir“, die „uns“ unbekannt sind und mit denen wir keinen persönlichen Kontakt haben.

Die Bildung einer sozialen Gruppe geht in der Regel einher mit einer Abgrenzung von „Anderen“ oder „Fremden“. Oft werden der eigenen Gruppe positivere Eigenschaften zugeordnet als anderen und ein vorrangiger Anspruch auf Ressourcen zugeschrieben. Dies bildet eine Voraussetzung für die Diskriminierung von Menschen, die als nicht zugehörig zur eigenen sozialen Gruppe gelten. Vorurteilsbedingte Diskriminierung – z.B. basierend auf Rassismus oder Sexismus –  verfestigt gesellschaftliche Hierarchien, verschärft Ungleichheiten und hilft privilegierten Gruppen, ihre vorteilhafteren Positionen auf Kosten anderer aufrechtzuerhalten.

Diskriminierung ist ein grundlegendes Phänomen sozialer Gruppen. Tatsächlich schadet Diskriminierung aber nicht nur den Betroffenen, sondern auch der gesamten Gesellschaft: Sie schürt politische Konflikte, schwächt den gesellschaftlichen Zusammenhalt und wirkt sich negativ auf den Wohlstand der Gesellschaft insgesamt aus.

Was ist Totalitarismus?

Totalitarismus ist eine politische Herrschaftsform, die die Bürger*innen absolut unterwerfen will. Ein totalitärer Staat versucht, alle Bereiche des Lebens (Familie, Beruf, Ausbildung, Freizeit usw.) zu kontrollieren, also „totale“ Macht auszuüben. Diese Regime verfolgen – häufig gewaltsam – Personen und Gemeinschaften, die nicht der offiziellen Ideologie entsprechen. Totalitäre Staaten können ideologisch unterschiedlich ausgerichtet sein: Im 20. Jahrhundert erhoben sowohl faschistische (z.B. das nationalsozialistische Deutschland) als auch einige sozialistische (z.B. die UdSSR) Staaten den Anspruch auf totale Kontrolle über ihre Bevölkerung.

In totalitären Staaten ist es kaum möglich und oft sehr gefährlich, für die eigenen Rechte zu kämpfen. Selbst wenn diese offiziell anerkannt werden, kann es sein, dass sie in der Praxis nicht eingehalten werden. Dies bedeutet, dass Beschwerden bei der Polizei und anderen Institutionen ignoriert werden oder sogar negative Folgen für den Beschwerdeführer haben können.

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Die Hauptausstellung „Zeitspuren“ sowie die übrigen Ausstellungen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stehen auch in der Mediathek digital zur Verfügung.

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