6. Eine andere Art „Entschädigung“ – das Hamburger Besuchsprogramm

Anfang der 2000er-Jahre befanden sich die ehemaligen NS-Verfolgten aus der Ukraine, Belarus und Russland in einer schwierigen Lage. Durch die Wirtschaftskrisen der 1990er-Jahre waren die inzwischen betagten Menschen fast mittellos und die medizinische Versorgung in den unabhängigen postsowjetischen Staaten war mangelhaft. Für viele ehemalige Zwangsarbeiter*innen war eine Reise nach Hamburg die einzige Chance, ins Ausland zu kommen.

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Zudem kämpften sie in ihrer Heimat weiter um ihren guten Namen und gegen die Vorwürfe, sie hätten wegen ihrer Zwangsarbeit in Deutschland „Verrat“ begangen. Die deutschen Entschädigungszahlungen verbesserten ihre Situation zweifellos, konnten aber nicht alle Probleme lösen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten angesammelt hatten.

Deutsche NS-Gedenkstätten und erinnerungskulturelle Initiativen bemühten sich, ehemaligen NS-Verfolgten aus Osteuropa zu helfen: So organisierte der Freundeskreis der KZ-Gedenkstätte Neuengamme in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Senat im Jahr 2001 ein Besuchsprogramm für ehemalige Zwangsarbeiter*innen aus Polen, den baltischen Staaten, Tschechien, der Ukraine, Belarus und Russland. Die Reisen waren als Zeichen der Anerkennung ihres Leids durch die Stadt gedacht, zusätzlich zur Entschädigung durch die Stiftung EVZ. Das Programm richtete sich an ehemalige NS-Verfolgte aus Osteuropa, die aufgrund des „Kalten Krieges“ und der politischen Regime der sozialistischen „Ostblock“-Länder zuvor nicht nach Deutschland hatten reisen können.

Als die Entschädigungszahlungen geleistet und Reisen geplant wurden, waren die meisten der ehemaligen Zwangsarbeiter*innen bereits verstorben oder konnten aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr reisen. Für diejenigen, die Hamburg besuchen konnten, waren die Besuche jedoch von großer Bedeutung: Die Gäste waren berührt von der Aufmerksamkeit, der Fürsorge und dem Interesse an ihren Erinnerungen, das sie in ihren Heimatländern so lange nicht erfahren hatten.

AUFGABEN 6

Die Teilnehmenden des Hamburger Besuchsprogramms brachten Hunderte von Geschenken aus ihren Heimatstädten und -dörfern für die Organisator*innen der Reise mit. Wir laden dazu ein, sich einige dieser Gastgeschenke näher anzuschauen. Arbeitet dazu in Gruppen.


6.1.
Sucht euch einzeln je einen Gegenstand aus, schaut ihn euch genau an und lest den begleitenden Text dazu. Was fällt euch zu eurem Gegenstand ein – wofür könnte er stehen? Lässt sich Näheres darüber herausfinden, woher er stammt? Stellt eure Gegenstände in der Gruppe vor.




6.2.
Überlegt gemeinsam, aus welchen Gründen die ehemaligen Zwangsarbeiter*innen gerade diese Gegenstände ausgewählt haben könnten. Was wollten sie damit wohl ausdrücken?



6.3.
Lest die Auszüge aus den Briefen, die Tamara Nassonowa nach ihrer Reise nach Hamburg geschrieben hat. Welche Auswirkungen hatte die Reise auf ihr Leben?


GASTGESCHENKE

Imitat eines Fabergé-Eis

Gewerbliche Produktion, Herstellungsort unbekannt, Geschenk von Tamara Nassonowa

„Fabergé-Eier“ waren Schmuckstücke in Form eines Ostereis, die in den Jahren 1880 bis 1910 in der Werkstatt von Peter Carl Fabergé für die russische Zarenfamilie und den Hochadel hergestellt wurden. Sie gelten als Symbol für den Luxus des Russischen Imperiums. In der Schatulle zu dem Ei lag eine Postkarte, auf der Tamara Nassonowa frohe Ostern wünschte.

„Matrjoschka“

Gewerbliche Produktion, Herstellungsort: Tschernihiw (Ukraine), Schenker*in unbekannt

Die „Matrjoschka“ ist eine gedrechselte hohle Holzfigur, in der sich weitere kleinere Puppen verbergen. Auf der Unterseite der Puppe befindet sich ein Stempel, der als Herstellungsort „Tschernigow“ (russischer Name für den ukrainischen Ort Tschernihiw) angibt. Die Tracht dieser Puppe kann jedoch nicht eindeutig der Tschernihiwer oder einer anderen Tracht zugeordnet werden, sondern ist vermutlich der Fantasie der Person entsprungen, die sie entworfen hat.


Halskette mit Marien-Ikone

Gewerbliche Produktion, Herstellungsort und Schenker*in unbekannt

Da die Geschichte dieses Geschenks nicht überliefert ist, können wir über seine Herkunft nur Vermutungen anstellen. Wahrscheinlich handelt es sich um die Imitation einer Korallenkette, wie sie zur traditionellen Tracht ukrainischer Frauen gehörte. Dieser Schmuck bestand meist aus mehreren Strängen mit roten Steinen, die die Gesundheit der Frau symbolisierten. Ikonen-Anhänger an Halsketten galten als Amulette, sie sollten der Trägerin also Glück bringen oder Schutz bieten.

BRIEFAUSZÜGE

Auszüge aus Briefen einer ehemaligen Zwangsarbeiterin

Tamara Nassonowa schrieb 2003 in Briefen an den Freundeskreis der KZ-Gedenkstätte Neuengamme:

„Diese Reise war für mich sehr schwierig, denn ich bin schließlich 82 Jahre und hatte schon drei Infarkte. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie viel sie mir letztendlich bedeutet hat. Über lange Jahre geisterten in meinem Kopf nur schmerzhafte und düstere Gedanken herum und sehr belastende Erinnerungen an diese drei Jahre in ferner Jugend. Jetzt aber, nach dem, was ich gesehen habe und vor allem erlebt habe, was die Deutschen uns, den Russen, an Zuwendung entgegengebracht haben, verlieren diese Erinnerungen etwas von ihrem Schmerz. Es ist nur schade, dass das nun erst, am Ende meines Lebens, passiert.“

Brief von Tamara Iwanowna Nassonowa aus Taganrog, Russland, Juli 2003.
Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme, HH 3.5.7.1.1


„Meine einwöchige Reise in die Vergangenheit war alles andere als eine bloße Unterhaltung. Nach meiner Rückkehr nach Hause habe ich mir vieles durch den Kopf gehen lassen und, wie man es bei uns sagt, ‚verdaut‘. In meiner Seele ist es wärmer geworden. Und das Wichtigste ist, dass ich in der Nacht schlechte Träume, die mit der Jugendzeit verbunden sind, nicht mehr habe.“

Brief von Tamara Iwanowna Nassonowa aus Taganrog, Russland, Oktober 2003.
Archiv KZ-Gedenkstätte Neuengamme, HH 3.5.7.1.1

virtuelle Ausstellungen

Die Hauptausstellung „Zeitspuren“ sowie die übrigen Ausstellungen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme stehen auch in der Mediathek digital zur Verfügung.

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