1. NS-Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion
Von 1941 bis 1944 verschleppte das NS-Regime im Rahmen des Vernichtungskriegs zur Eroberung von „Lebensraum“ in Osteuropa mehr als 2,7 Millionen Menschen aus der damaligen Sowjetunion – aus der Ukraine, aus Belarus und aus den westlichen Teilen Russlands.
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Sehr wenige gingen freiwillig „zum Arbeitseinsatz“ nach Deutschland, die meisten wurden mit Gewalt dazu gezwungen. Sie alle leisteten im nationalsozialistischen Deutschland Zwangsarbeit. Die Zwangsarbeiter*innen wurden in der Industrie, im Bergbau, in der Landwirtschaft, in der Gastronomie und in privaten Haushalten eingesetzt. Ihr Durchschnittsalter im Jahr 1942 betrug 22 bis 25 Jahre, fast die Hälfte waren Frauen. Darüber hinaus wurden aber auch Jugendliche unter 18 Jahren sowie ältere Menschen zur Zwangsarbeit verschleppt.
Im Vergleich zu Zwangsarbeiter*innen aus westeuropäischen Ländern hatten die herabsetzend als „Ostarbeiter“ bezeichneten und rassistisch abgewerteten Zwangsarbeiter*innen aus der Sowjetunion im nationalsozialistischen Deutschland deutlich weniger Rechte: Sie erhielten praktisch kein Geld, mussten in Baracken leben, die mit Stacheldraht eingezäunt waren, bekamen oft zu wenig Essen, durften keine privaten Kontakte zu Deutschen pflegen und wurden bei tatsächlichen oder vermeintlichen Vergehen hart bestraft, unter anderem mit KZ-Haft. Etwas besser war die Situation für einige derjenigen, die in privaten Haushalten oder auf dem Land arbeiteten. Einige Erinnerungsberichte ehemaliger Zwangsarbeiter*innen beschreiben, dass dort manchmal zwischenmenschliche Beziehungen mit den Arbeitsgeber*innen entstanden, beispielsweise wurde – trotz des Kontaktverbotes – gemeinsam an einem Tisch gegessen.
Die Forschung geht davon aus, dass etwa 250.000 der Zwangsarbeiter*innen in Deutschland nicht überlebten. Sie starben, weil sie erkrankten oder unter den schweren, gefährlichen und gewalttätigen Arbeitsbedingungen verletzt und nicht behandelt wurden. Andere fielen Gewalttaten oder Bombenangriffen zum Opfer. Die Zahl derer, die Traumata, chronische Leiden und andere Versehrungen davontrugen, ist unmöglich zu bestimmen.
Mehr als 4 Millionen sowjetische Bürger*innen – darunter vor allem befreite Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter*innen und KZ-Häftlinge – kehrten nach Kriegsende in die Sowjetunion zurück. Ihre Rückführung erfolgte zwangsweise. Einem Teil derjenigen, die nicht zurückkehren wollten, gelang es, sich der Repatriierung zu entziehen, indem sie sich eine neue Identität gaben – ein Schritt, der nicht ungefährlich war. Auf diese Weise konnten sie im westlichen Europa bleiben oder aber auswandern, vor allem nach Nordamerika und Australien. Insgesamt konnten etwa 285.000 sowjetische Bürger*innen auswandern.
AUFGABEN 1
BIOGRAFIEN
Tamara Nassonowa
15. September 1921 | Tamara Nassanowa wird in Taganrog geboren, ihr Vater ist Fabrikarbeiter. |
September 1938 | Sie beginnt ein Studium am Medizinischen Institut in Rostow am Don. |
17. August 1941 | Taganrog wird von der Wehrmacht eingenommen, die deutsche Besatzung der Stadt beginnt. |
April 1942 | Tamara Nassanowa wird zur Zwangsarbeit in eine Bekleidungsfabrik in Hamburg-Harburg (Jute-Spinnerei und Weberei) verschleppt. |
Frühjahr 1944 | Sie wird unter dem Vorwurf der Sabotage für mehrere Monate im Gestapo-Gefängnis Fuhlsbüttel inhaftiert, obwohl sie unschuldig ist |
April 1945 | Tamara Nassanowa wird von US-Truppen in der Gemeinde Herzfeld befreit. |
Frühjahr bis Sommer 1945 | Sie wird in die sowjetische Besatzungszone in Deutschland geschickt. |
Sommer bis Herbst 1945 | Sie arbeitet als Krankenschwester in einem sowjetischen Krankenhaus in Deutschland. |
Oktober 1945 | Tamara Nassanowa kehrt nach Taganrog zurück, wird überprüft und erhält eine vorläufige Identitätskarte anstelle eines Inlandspasses. Erst viel später erhält sie einen Pass. |
1945 bis 1946 | Ihr Versuch, erneut ein Medizinstudium aufzunehmen, wird abgelehnt, weil sie während des Krieges in Deutschland war. |
1947 | Sie immatrikuliert sich am Pädagogischen Institut. |
vermutl. 1947 | Sie erhält eine Stelle als Literaturlehrerin an einer Schule und arbeitet dort 30 Jahre lang. |
1958 | Tamara Nassanowa heiratet einen Militärpiloten. Die Ehe bleibt kinderlos. Außer ihrem Mann erzählt sie niemandem von der Zwangsarbeit in Deutschland. |
1998 | Ihr Mann stirbt. |
2003 | Tamara Nassanowa besucht Hamburg im Rahmen eines Besucherprogramms für ehemalige NS-Zwangsarbeiter*innen aus Osteuropa. |
2008 | Tamara Nassanowa stirbt. |
Klawdija Agafonowa
17. August 1927 | Klawdija Agafonowa wird in einem Dorf in der Region Kursk als Kind einer Bauernfamilie geboren. |
22. Juni 1941 | Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion |
Oktober 1941 | Beginn der deutschen Besatzung des Dorfes, in dem Klawdija Agafonowa bei ihrer Großmutter und ihrer Tante lebt. |
Mai 1942 | Klawdija Agafonowa wird nach Deutschland verschleppt und muss Zwangsarbeit in der Hamburger Wollkämmerei im Stadtteil Wilhelmsburg leisten. |
1944 | Sie flieht gemeinsam mit einer Freundin aus der Fabrik, wird von der Gestapo gefasst und in ein „Arbeitserziehungslager“ in Hamburg-Wilhelmsburg gebracht. Nach einiger Zeit kann sie in die Hamburger Wollkämmerei zurückkehren. |
Mai 1945 | Klawdija Agafonowa wird durch britische Truppen befreit und bald darauf in die sowjetische Besatzungszone gebracht. Dort arbeitet sie als Hilfsarbeiterin in der Bäckerei einer Militäreinheit. |
Oktober 1945 | Sie kehrt über Krakau in ihre Heimat zurück, wo sie überprüft und verhört wird. |
1946 | Klawdija Agafonowa wird von allen Instituten und Hochschulen in Kursk, bei denen sie sich beworben hat, abgelehnt. Grund dafür ist ihre Zwangsarbeit in Deutschland. Sie findet keine Arbeit. |
1946 | Klawdija Agafonowa geht nach Georgien und findet dort Arbeit in einer Baubrigade. Einige Jahren später heiratet sie und bekommt einen Sohn. Ihre Zwangsarbeit in Deutschland hält sie geheim. |
1958 | Klawdija Agafonowa zieht nach Tjumen in Sibirien und arbeitet im Bauministerium. Sie findet bald heraus, dass sich der sowjetische Geheimdienst KGB für sie interessiert, weil sie in ihren offiziellen Papieren ihren Aufenthalt in Deutschland verschwiegen hat. |
1995 | Mitbegründerin einer Vereinigung ehemaliger Häftlinge der NS-Lagern und ehemaliger Zwangsarbeiter*innen in Tjumen. |
2002 | Klawdija Agafonowa erhält auf Antrag eine Entschädigung in Höhe von 750,- Euro von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“. Dies war die niedrigste von drei verschiedenen Summen, die als Entschädigung ausgezahlt wurden. |
Januar 2005 | Sie besucht Hamburg im Rahmen eines Besucherprogramms für ehemalige NS-Zwangsarbeiter*innen aus Osteuropa. |
vermutl. 2007 | Klawdija Agafonowa stirbt. |